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Nahverkehr und Digitalisierung – die letzte Stunde hat geschlagen*

Die Erfindung der Lokomotive und der Bau des Eisenbahnnetzes in Europa prägten die industrielle Revolution, das 19. und frühe 20. Jahrhundert. „Der tief greifende gesellschaftliche Wandel, den die Erfindung der Eisenbahn auslöste, blieb einmalig in der Geschichte der westlichen Kultur“, so Kathleen Niebel, LEXY Online. Stehen wir heute mit der Digitalisierung vor einer ähnlichen Revolution?

Um zu erfahren, wie im städtischen Nahverkehr über das Thema gedacht und wie gehandelt wird, befragte ich (digitale) Fachleute zweier großer deutscher Verkehrsunternehmen. Verschläft (möglicherweise) der Nahverkehr die Digitalisierung? „Unsere Tarifsysteme sind streng reguliert und politisch getrieben, Entscheidungsprozesse zu Veränderungen sind sehr kraft- und zeitaufwendig“, meinte der erste Befragte. „Weder Geld noch Fachpersonal sind ausreichend vorhanden. Wir retten uns von einem Thema zum anderen.“ Der zweite antwortete: „Eine komplett erarbeitete ‚Digitalisierungsstrategie‘, welche breit (vor allem unternehmensweit) abgestimmt und kommuniziert ist, gibt es nicht.“ Es fehle zudem an unternehmensübergreifenden Strategien sowie Experten im Öffentlichen Nahverkehr. „Was durch eine intelligente Nutzung vorhandener und künftiger Daten möglich ist […], bedeutet eine völlig neue Welt, die mit der bisherigen nichts gemein hat.“

Infolge dieser Aussagen bat ich Anfang des Jahres bei etwa 25 Unternehmen die Pressesprecher / innen um ihre Meinung. Anonymität sagte ich zu. 17 antworteten.

Eine deutliche Mehrheit bejahte, dass ihre Unternehmensleitung ein einheitliches Verständnis zur Digitalisierung und deren Chancen habe. Weniger überzeugt klang die Antwort auf die Frage, ob Rollen und Schnittstellen zwischen der IT, anderen Abteilungen und der Unternehmenskommunikation vernünftig organisiert wären. Im Durchschnitt wurde auf die Fragen, ob ein funktionierendes Innovationsmanagement vorhanden sei und es eine digitale Austauschplattform für Innovationen gebe, zurückhaltend mit „teils teils“ oder schlechter geantwortet. Die Ergebnissen der Befragung zeigen, dass in der Regel offenbar noch viel Zeit benötigen wird, um digitale Problemlösungen, die als richtig erkannt wurden, auf Arbeitsprozesse zu übertragen. Eher weniger nutzen Management und Mitarbeiter Kreative und Spezialisten. Immerhin zwei Drittel der befragten Nahverkehrsunternehmen offerieren dem Nutzer bereits ein Angebot, das per Smartphone mehrere Varianten vorschlägt, um günstig mit verschiedenen Verkehrsmitteln zu einem anvisierten Fahrtziel zu gelangen. Die Antworten insgesamt verdeutlichen: Die digitale Herausforderung scheint erkannt, an der Umsetzung hapert es.

Auf meine Zusatzfrage im Plenum, wer die neue Mobilitätsplattform MOIA von VW kenne, antwortete mit ja geschätzt lediglich ein Viertel der Anwesenden. MOIA bezeichnet die Fahrtenvermittlung als „einen zentralen Baustein“. Das ist ein knallharter Angriff auf die bisherige Domäne des städtischen Nahverkehrs, auch wenn – zunächst – Kooperation signalisiert wird.

Weder Euphorie noch Verschlafen sind beim Thema Digitalisierung gute Begleiter. Der Nahverkehr sollte den digitalen Kunden deutlich mehr in den Mittelpunkt des Handelns rücken, sich mit (digitalen) Fachleuten permanent auseinandersetzen und die Konkurrenz stetig genau beobachten. Ansonsten werden Straßenbahn und Autobus – schneller als wir glauben – von der neuen Technologie überholt wie vor 175 Jahren die Pferdekutschen von der Eisenbahn.

* Titel meines Vortrages zum 14. Pressesprechertreffen großer deutscher Verkehrsunternehmen in Zürich (Ende April d.J.) sowie Teiltitel eines Gedichtes aus dem Münchner Tageblatt vom 10. Oktober 1840. Für den Vortrag holte ich mir Rat bei Stephan Preuss von QANTIC Digital.

Siehe auch: Städte ohne Staus, Süddeutsche Zeitung vom 13./14. Mai

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