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„Der entführte Westen“

Aus tiefer Vergangenheit erreichen mich zwei Texte von Milan Kundera (Kampa 2023) und treffen mir mitten ins Herz: Die Tragödie Mitteleuropas, so die Unterzeile. Ungläubiges Staunen löst der kleine Band bei mir aus. Wie kann es sein, dass diese scharfsinnigen und zugleich warmherzigen Texte nicht längst in den Kanon des europäischen Denkens aufgenommen wurden? Der eine Text wurde 1967 in Prag geschrieben und der andere in Paris im Jahre 1983. Während der erste Text vor allem erstaunt, wenn man die Umstände seiner Entstehung vor dem Prager Frühling 1968 kennt und die damalige Gedankenwelt sich in Erinnerung ruft: Deshalb untergräbt jeder, der durch Bigotterie, Vandalismus, Kulturlosigkeit oder Kleingeistigkeit die derzeitig kulturelle Entfaltung untergräbt, unmittelbar die Existenz dieser Nation. Das zielt auf die Kultur der sowjetischen Machthaber im Ostblock und die Kommunisten im eigenen Land. Der zweite Text von 1983 ist geradezu prophetisch: An der östlichen Grenze des Westens erkennt man Russland besser als anderswo als einen Anti-Westen; es zeigt sich nicht nur als eine der europäischen Mächte unter anderen, sondern als eine spezielle andere Zivilisation […] Mitteleuropa wollte ein verdichtetes Abbild Europas sein, ein erzeuropäisches kleines Europa, das verkleinerte Modell des Europas der Nationen, aufgebaut auf der Regel: maximale Vielfalt auf minimalen Raum. Wie konnte man da nicht angesichts eines Russlands in Angst und Schrecken versetzt werden, das demgegenüber auf der entgegengesetzten Regel gründet: minimal Vielfalt auf maximalen Raum?

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