Einige Wochen stand ich im Juli und August abwechselnd mit Thomas W. im Süden und im Norden Leipzigs auf der Straße – im Wahlkampf von früh 9 Uhr bis abends 19 Uhr. Nicht ganz regelmäßig, aber fast jeden Tag. Die Begegnungen mit den Leuten ergaben sich also rein zufällig dadurch, dass wir sie ansprachen. Die Eindrücke sind demzufolge nicht repräsentativ.
Zunächst fragten wir, was die Menschen bewegt und vielleicht auch ärgert, wo sie die größten Probleme sehen und wie es ihnen persönlich geht. Die Leute zeigten sich in der Regel ausgesprochen gesprächsoffen. Ausnahmen bestätigten die Regel: Einer fragte lautstark danach, wo man hier denn die NSDAP wählen könne, einer bedauerte empört, die AfD wählen zu müssen, weil die NPD verschwunden wäre. Ein anderer wiederum lehnte kategorisch Wahlen ab, denn sie seien ja allesamt von imperialistischen Wirtschaftsinteressen manipuliert.
Unsere Vorstellungen, was uns erwarten könnte, richteten sich anfangs darauf, dass wir – geschult an Zeitungslektüre und Wahlprogrammen – nach zu niedrigen Renten, miesen Einkommen, nicht mehr bezahlbarem Wohnraum, Bildung und Schule angesprochen würden. Sicherlich bei Renten und Einkommen spielte der Ärger eine Rolle, dass immer noch nicht der West-Ost-Ausgleich erreicht sei. Die Mieten hingegen waren kein Thema. Schule war wohl deshalb kein Thema, weil Eltern mit Zeit zu einem Gespräch nicht unterwegs waren. Aber wir sprachen mit einem etwa 45jährigen Lehrer, der AfD wählt und das – auf Nachfrage – auch ironisch bekannte. Und wir trafen auf Leute, die locker abwinkten und sagten, uns geht es gut.
Mit Sorge allerdings sehen viele in die „große Welt“, wo es denn hingehen würde? Das könne doch auf Dauer so nicht gut gehen. Aus diesen Gesichtern und Gesprächen sprach Unruhe und Suche nach Orientierung, die sie offenbar nirgends finden. Allgemein wurde Politik heftig beklagt: „An dem Sauladen ändert sich doch sowieso nichts“. Wohl weil die Leute uns als Politiker erkannten, blieb die direkte Kritik verhältnismäßig zurückhaltend. Auch das Thema Klima, das Angst einjage, wurde benannt, aber eher selten. Einige rannten eilig vorbei: Sie hätten sich längst entschieden und wählten – wen denn sonst? – die AfD. Mit diesen Menschen kamen wir kaum ins Gespräch, so als würden sie einem Gespräch lieber aus dem Weg gehen und unter sich bleiben wollen.
Zu unserem Erstaunen wurden immer wieder und ständig die Stichworte Migration und Ausländer als beunruhigend benannt. Natürlich müssen wir, so die Leute auf der Straße, denjenigen helfen, die kurz vor dem Ertrinken, also in großer Not sind, vor Kriegen fliehen. Aber können wir wirklich allen auf der Welt helfen? Wo soll denn das hingehen? Alles in Deutschland sei geregelt, wenn ich mein Auto mal zehn Minuten falsch abstelle, bekomme ich ein Knöllchen und 25 Euro Strafe. Die Ausländer aber, so die Angesprochenen, sind sie erst einmal bei uns, beunruhigt nichts. Sie können machen, was sie wollen. Wer kümmert sich um die Regeln, die auch sie einhalten müssen?
In Gohlis Nord zeigen Vorbeikommende verschämt auf einen baumbewachsenen Erdhügel neben ALDI. Auf dem sitzen tagein und tagaus gut angezogene Schwarzafrikaner, die aller halben Stunde Bierkästen holen, trinken und fröhlich plaudern. In Abständen kommen ihre jungen, häufig schwangeren Frauen mit Kinderwagen vorbei. Die Einheimischen sagen, sie würden sich abends nicht mehr am Hügel vorbeitrauen. Außerdem rieche es kräftig nach Urin. Niemand von der Ausländerbehörde, so die Anwohner, könne daran etwas ändern. Und wer erarbeitet das Geld für diese Menschen, die hier sitzen? Das ist doch unser Geld? Wie und wovon sollen meine Kinder und Enkelkinder künftig leben?
Ich hatte alles erwartet nur nicht diese Konzentration auf ein Thema und auf ein Thema, das gemessen an der niedrigen Zahl von Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund in Leipzig, eigentlich kein Thema sein dürfte. Doch wie arrogant und elitär mein Denken! Nicht unsere Sicht auf die Welt entscheidet, was die Leute meinen, sondern allein sie selbst bestimmen, was sie für Fragen haben. Und wenn die Politik nicht antwortet, dann gehen sie dorthin, wo sie Antworten bekommen. Unsere Antwort war dann klar: Wir benötigen ein Zuwanderungsgesetz wie es vorbildhaft in Kanada existiert und das zugleich auch die Frage der Integration regelt. Die Debatte dazu muss im Bundestag und öffentlich geführt werden. Die Menschen interessiert es.
*Aus „Toleranz ist nichts Gottgegebenes. Man muss sie lernen und erfahren dürfen. Toleranz ist eben auch eine Frage des Milieus“ von Eva Marie Stegmann, 21.November 2019, DIE ZEIT, Seite 86, Zitat vorletzter Abschnitt