Die Ideen von Karl Marx tauchen immer wieder verstärkt dann auf, wenn von einer gerechteren Welt geträumt wird. Dabei gibt es kaum einen anderen Philosophen, der sich in seinen Voraussagen so gründlich irrte wie Marx. Für die prophezeite klassenlose Gesellschaft brachte Marx, was sich als besonders fatal erwies, keinerlei praktikable Vorschläge zu Papier. Seine Prophezeiungen trafen nicht nur nicht ein, sondern sie bildeten auch noch die ideelle Grundlage für grausame gesellschaftliche Experimente. Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot folgten den Voraussagen in der Tat konsequent und mit Millionen von Toten und ungeheuerliches Elend. Trotz dieser Geschichte haben die Marx‘schen Ideen bis heute eine unglaubliche Anziehungskraft behalten. Warum?
Für einen, der den Marxismus-Leninismus am eigenen Leibe erlebte und erlitt, ist die neue Anziehungskraft gut zu erklären. Die Marx’schen Ideen mit einigen durchaus faszinierenden Analysen – auch wenn Marx mit dem Kapital komplett daneben (FAZ) lag – fungieren quasi als Ersatzreligion (nicht nur für Religionslose). Die nüchterne Einsicht, dass die Welt der Menschen unvollkommen ist und auch nie vollkommen sein wird, erträgt sich schwer. Angesichts der Mühen und Auseinandersetzungen in demokratischen Gesellschaften, woran soll man da heute noch glauben?
Die Prophezeiungen von Marx erschienen in dem Moment auf der europäischen Bühne, als im 19. Jahrhundert Religionen an Anziehung und Bindekraft verloren. Statt Neues Testament das Kommunistische Manifest. Nach hundert Jahren ist der Marxismus nun selbst zum Opium für manch Intellektuelle im Volk geworden. Das marxistische Gedankengut scheint die Welt allumfassend wie logisch zu erklären, definiert als Alleinschuldigenden das teuflische Kapital, alles verbunden mit kräftigen Heilserwartungen an die Zukunft. Die persönliche und gesellschaftliche Verantwortung nimmt der Marxismus denjenigen, die an ihn glauben, weitgehend ab. Allein der Glaube lässt auf der richtigen Seite stehen: „Wenn also das Kapital in gemeinschaftliches, allen Mitgliedern der Gesellschaft angehöriges Eigentum verwandelt wird, so verwandelt sich nicht persönliches Eigentum in gesellschaftliches. Nur der gesellschaftliche Charakter des Eigentums wandelt sich …“. Das arbeitende Volk hat sich längst von diesen Marx‘schen Prophezeiungen verabschiedet und sich den Vorteilen der kapitalistischen Konsumgesellschaft zugewandt frei nach dem Motto lieber den Spatz in der Hand als die Philosophie auf dem Dach.
Die irre Ironie der Geschichte liegt darin, dass der größte noch bestehende kommunistische Staat – die Volksrepublik China – den Kapitalismus als Wirtschaftssystem (natürlich ohne demokratische Kontrolle) erfolgreich übernommen hat. China erhöhte damit tatsächlich den Wohlstand seines Volkes erheblich und verringerte den wirtschaftlichen Abstand zum Westen maßgeblich, ohne auf seine Ideologie (und Religion) zu verzichten. Wo jedoch bleibt die Kritik der Marxisten an diesem System?