Als 2007 Hermannstadt (Sibiu) in Rumänien europäische Kulturhauptstadt wurde, gab es in der Stadt fast mehr Veranstaltungsorte als Besucher. Erst einige Jahre später füllten sich Plätze und Straßen. In Breslau 2016 ist das völlig anders: Eine quicklebendige, quirlige Stadt, doch vom „Kulturhauptstadtjahr ist mit Ausnahme mancher Werbebanner nicht viel zu sehen“, berichten die Westfälischen Nachrichten zutreffend.
Unabhängig davon ziehen die exzellent und liebevoll restaurierte Altstadt mit mächtigen Bürgerhäusern und gotischem Rathaus sowie zahllose Kneipen und Restaurants Tausende an. Familien und junge Leuten schlendern und eilen bis tief in die Nacht durch die Stadt. Alle geben sich locker und selbstbewusst, solide und ordentlich. Hier spricht man Polnisch. Erst wenn man genau hinhört, vernimmt man auch Englisch, Französisch, Italienisch und Deutsch. Die Stadt hat enorm viel zu bieten, die mediale Berichterstattung in Deutschland ist dagegen eher mager. Immerhin der Tagesspiegel und Deutschlandradio Kultur bemühen sich. Was ich vor Ort auf den Straßen allerdings vermisse, sind die Künstler, die Intellektuellen und Außenseiter. Wo sind sie geblieben?
An jeder Ecke werfen Gaukler brennende Fackeln in die Luft. Mini-Plastikröllchen flippen grünlich leuchtend in den Abendhimmel. Eine Bühnenleinwand zeigt Stummfilme der 20er Jahre. Schattenrisse laufen hinter einer Fensterreihe eines mehrstöckigen Gebäudes hektisch von einer Seite zur anderen. Das wirkt merkwürdig modern. In den Nebenstraßen findet, wer sich dahin verirrt, Straßen und Häuserzeilen, die die Narben des grauenvollen Krieges und des sozialistischen Aufbaus schmerzlich offenbaren. Hier leben die Polen, denen in Gesicht und Gang Jahre an konsumierten Alkohol geschrieben stehen. Kontraste, die anhaltend schwer im Magen liegen bleiben.
Nach dem Besuch in Breslau wollen wir noch einmal in die Gegend touren, wo unsere Vorfahren lebten, ins Eulengebirge. Wir besteigen die „Hohe Eule“ mit 1015 Metern. Unterwegs begegnen wir vielen bergerprobten jungen Polinnen und Polen. Alte Mütterchen tragen mit Blaubeeren prall gefüllte Eimer ins Tal. Schließlich soll uns der Gipfelturm, der Bismarkturm, mit einem Blick in die Ferne belohnen. Im Erdgeschoss werden wir mit vorsichtig korrektem Deutsch begrüßt und mit allem versorgt, was Körper und Sinne nach dem Aufstieg benötigen: Getränke, Eis und Postkarten. Der Verkäufer in Forstuniform wirkt, als schriebe er nicht banale Rechnungen, sondern anspruchsvolle Texte für die Nachwelt. Eine Etage höher verkauft die Tickets zur Aussicht der junggebliebene Rübezahl. Sagenhaft die ausholenden Gesten, das lange blond-strähnige Haar und sein nachsichtig weises Lächeln. Nun fühlen wir uns wieder zu Hause in Polen.
Besonders lesenswert: Norman Davis & Roger Moorhouse (2002): Die Blume Europas – Breslau – Wroclaw – Vratislavia; Droemersche Verlagsanstalt München