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Meinung bilden – wofür auch immer

Gefühle prägen Denken und Wissen. Gefühle heben hervor, schaffen Bedeutung und markieren die Zeit. Sie öffnen oder verschließen die Menschen, sie sind zwar nie eindeutig, dafür aber häufig überzeugender. Was von innen kommt, wird eher als wahr akzeptiert und rascher vernommen. Wenn Wissen und Kenntnisse nicht ausreichen, um die Welt zu verstehen, dann entscheiden Gefühle. So prägen sie mal mehr, mal weniger, manchmal die ganze Wahrnehmung.

Rationales Denken hingegen bedeutet, Informationen objektiv, logisch und auf Basis von Fakten zu analysieren und fundierte Überzeugungen zu finden, anstatt sich von Emotionen oder Vorurteilen leiten zu lassen. Das ist anspruchsvoll. Den Ton im Konzert der Kommunikation geben häufig diejenigen vor, die auf der Klaviatur von Gefühlen kräftig zu spielen in der Lage sind. Sie gewinnen das Rennen in der Mehrheit, selten die rationalen Denker. Doch die Entscheidungen in unserer Staatsform (Demokratie) basieren vor allem auf rationalem Denken. Das wiederum stimmt nur zum Teil. Denn auch hier wird nicht selten entschieden über, was richtig oder nicht richtig ist, vom Gefühl her und aus der Zugehörigkeit einer bestimmten Gruppierung oder Partei. Alles selbst zu rational bis auf den Grund zu durchdenken, dafür fehlen nicht selten Zeit, Wissen und Fähigkeiten. Dafür sind im Idealfall die redaktionellen Medien da.

Da die Menschen rationale und gleichzeitige emotionale Wesen sind, kann es auf Dauer nicht gut gehen, dass diejenigen, die nicht auf Anhieb sachlich und professionell logisch argumentieren können, außen vor bleiben und keine Fürsprecher haben. Denn falls sie in ihre Wahrnehmungen richtig oder fast richtig liegen, aber nicht ernst genommen werden, dann wandern sie – je nach Schmerz und Dringlichkeit – dahin, wo sie wahrgenommen werden. Früher hatten diese Menschen keine kommunikative Macht, verschwanden im Strudel der Schweigespirale und gingen nicht wählen. Heute besitzen sie mit Social Media ein machtvolles Instrument zur Meinungsbildung. Was tun?

Fremde Emotionen und (vielleicht?) abwegige Gedanken können nur gedanklich nachvollzogen werden, wenn wenigstens der Wille, sie zu verstehen, vorhanden ist. Verstanden werden anscheinend oder tatsächlich abwegige Positionen nur, wenn darüber sachlich, nicht emotional gesprochen wird. Ein echtes Dilemma. Die Debattenteilnehmer müssten über den jeweils eigenen Schatten springen, d.h. über das eigene Weltbild hinaus denken und vielleicht das eigene Wertefundament verlassen. Kann das verlangt werden?

Ein Bespiel, wenngleich ein gewichtiges: Ob sich die klassischen Medien mit ihrem Privileg der Pressefreiheit auf so eine Debatte einlassen? Sie müssten Themen verhandeln, die ihrem eigenen Weltbild widersprechen. Sie müssten die Auswahl von Personen ändern und den politischen Betrieb nicht mehr allein (weil zu einfach) in den Mittelpunkt ihrer Berichte stellen. Sie müssten die politische Gegenwart ausgewogen und sogar positiver beschreiben als üblich, vielleicht sogar verteidigen. Sie dürften nicht in Kritik das Alleinseligmachende suchen. Denn das stärkt – bei Lichte betrachtet – jeweils den rechten oder linken Populismus. Die Journalisten müssten im kritisierten Zusammenhang betonen, dass die liberale Staatsform (Demokratie) nicht einfach zu handhaben, folglich schwer zu verstehen, aber die beste ist, die wir kennen. Unter dieser Prämisse ausgewogen kritisch zu berichten, erfordert Klugheit und ist anspruchsvoll, wenn man sich nicht der Macht oder dem Mainstream  anbiedern will.

Im Gegensatz zu den digitalen Medien tragen die klassischen Medien eine gesetzlich verankerte Verantwortung für eine objektive Berichterstattung. Die Öffentlich-Rechtlichen Medien sind verpflichtet, ausgewogen zu berichten. Die Social Media Plattform-Medien und deren kommerzielle Algorithmen entscheiden hingegen über wichtig oder unwichtig, über Wissen oder Gefühl, ohne dass sie sich der Gesellschaft erklären und Rechenschaft ablegen müssen. Das ist fatal, wenn nicht gefährlich. Ob die Medien (insgesamt) tatsächlich ausgewogen und vielfältig berichten – eine Grundlage für die freie Meinungsbildung – darüber können quantitative und qualitative Medieninhaltsanalysen Auskunft geben. Dass solche Analysen nicht stattfinden (oder nicht bekannt sind), ist fahrlässig von der Medienwissenschaft und fehlt fundamental in der Debatte.

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