An diesem Tag veranstaltete das Neue Forum in Leipzig einen Schweigemarsch. Nach zehn Montagsdemonstrationen mit vielen Hundertausenden war diese Demonstration die erste außerhalb der Montagsdemonstrationen. Thema: Gedenken an die Pogromnacht und gegen rechtsradikale Tendenzen in der DDR. Noch kurz zuvor wäre eine solche Demonstration völlig undenkbar gewesen und die Initiatoren wären für Jahre hinter Gittern verschwunden. Spätestens seit Konrad Weiß illegaler Veröffentlichung wussten wir, dass sich in der DDR kräftige Tendenzen dieser Art zeigten, sie aber totgeschwiegen wurden. Hinter dem „antifaschistischen Schutzwall“, wie die Mauer genannt wurde, durfte es so etwas nicht geben. In der DDR-Armee NVA und anderen para-militärischen Einrichtungen wie den Kampfgruppen und in manch Schulen und Familien lebte nationalsozialistisches Gedankengut ungestört weiter. Die Lebensart passte zu Gehorsam und Gleichschritt in der DDR wie die sprichwörtliche „Faust aufs Auge“. Eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus jenseits von Propaganda fand nicht statt. Die wenigsten wussten von Synaogogen in Leipzig. Als wir – geschätzt 30 000 – an jenem 9. November schweigend von der Nikolaikirche bis zu der Stelle liefen, wo bis 1938 die Große Gemeindesynagoge stand, stürzte die Mauer.