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(2) Neues Tscherniwzi in alten Mauern

Mein nächstes Ziel ist die Stadt Tscherniwzi, (dt. Czernowitz), knapp 300 Kilometer südöstlich von Lemberg gelegen. Keine Entfernung dachte ich, doch – bin schockiert – die Straße, die dahin führt, befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Bei mehr als 60 Kilometer pro Stunde Fahrtgeschwindigkeit riskiere ich aufgrund knietiefer Löcher einen Achsbruch, bei langsamer Fahrt überholen mich ständig links und rechts PKWs und Kleinlaster. Die Einheimischen kennen sich eben aus …

Die Landschaft mit weitem Horizont ist nicht spektakulär. Die Dörfer und kleinen Städte wirken einfach und bescheiden, aber nicht armselig. Die Leute scheinen einigermaßen mit dem täglichen Leben zu recht zu kommen. Auch hier flattern an vielen Häusern ukrainische Wimpel. Neue Wohnhäuser fehlen. Moderne Tankstellen gibt es zahlreich. Ab und zu tauchen in der Landschaft einzeln stehende, große neue Villen auf und mit glänzenden Goldkuppeln neue orthodoxe Kirchen. In den Städtchen sehe ich restaurierte Häuser eher selten.

Die Felder sind größtenteils bebaut. Die Äcker zeigen tiefschwarze, fruchtbare Erde. Dennoch blüht der Raps nur dürr auf vereinzelten Stängeln. Wenig Wald und Bäume. Kühe und Ziegen grasen am Straßenrand oder werden von einem Hirten betreut, ruhig und friedlich das Bild, wenngleich für unser Denken befremdlich.

Nach sechs Stunden Fahrt und einigen Pausen erreiche ich erschöpft Czernowitz und bin gespannt darauf, was mich erwartet. Die Stadt liegt an einem weiten Talhang westlich des nicht allzu breiten Flusses Pruth. Eine Legende besagt, der Fluss hätte Schutz vor kriegerischen Tataren und Mongolen geboten, der dunkle Buchenwald dahinter sei abschreckend gewesen. Östlich des Flusses (Stadtteil Sadhora) siedelten in der Tat vor allem Juden. Die Zufahrt über kaputte Straßen und an renovierungsbedürftigen einstöckigen Häusern vorbei ist schwierig. Dann führt die Straße bergan und wir sind mitten im Verkehrstrubel der recht großen Stadt (ca 250 000 Einwohner).

Die für den Verkehr viel zu schmalen Straßen und Gassen lassen die Suche nach meinem Hotel zu einem Abenteuer werden. Hinweise auf den Karten widersprechen den Straßennamen. Ich wohne schließlich im Zentrum mit den typischen zweistöckigen gelbfarbenen klassizistischen Häusern aus den Zeiten der Donaumonarchie. Alles blättert etwas ab, Stuck, Putz und Farbe. Die Austattung des Hotels ist vorzüglich.

Ich laufe in die Stadt, die nun am Abend im Vergleich zu Lemberg viel ruhiger ist, ja fast menschenleer wirkt. Die Flaniermeile prägen gut restaurierte, reich gegliederte drei- und vierstöckige Gebäude eines prachtvolle, opulenten Historismus. Am äußersten Ende der Straße, die sich lang und quer am Talhang erstreckt, ehemals Herrenstraße genannt, entdecke ich ein Gebäude, das Haus der Deutschen, in einem kantigen Heimatstil. Dann finde ich in einem Souterrain ein Café mit jungen Leuten und viele alte deutschsprachige Zeitungen aus den 1920er und 1930er Jahren: so das Czernowitzer Morgenblatt und den Vorwärts. Hier hätte ich endlos Kaffee genießen und lesen können. Czernowitz war bis 1940 eine Stadt mit unglaublich viel Zeitungen (vgl. Studien zur Geschichte der deutschsprachigen Presse der Bukowina 1848 – 1940).

Auf der Straße gegen 21 Uhr bummeln nur Vereinzelte, die Gaststätten sind nicht besonders gut besucht. Die Stadt scheint – im Gegensatz zu Lemberg – ihre Identität noch nicht gefunden zu haben. Oder doch?

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