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Wie wunderbar, ein Buch regt auf – eine verrückte Geschichte

Vorab zur Erinnerung: Die DDR war autoritär und reaktionär. Von Partizipation keine Rede. Der Nationalsozialismus waberte unaufgeklärt weiter. Eine Partei hatte immer recht. Millionen flohen in den Westen. Die Untertanen wählten 40 Jahre lang, indem sie Zettel falteten. Weder Wirtschaft noch Bildung funktionierten. Die DDR hinterließ Trümmerlandschaften und Propaganda in unseren Köpfen. Wichtige Bücher verboten. Die Presse gleichgeschaltet. Überall Spitzel und achtsame Kleinkrämer. Damit die Leute an den Sozialismus glaubten, verfolgte der Staat erbarmungslos abweichende Meinungen. Zuchthaus nach Denunziation und für Bagatellen. Ruhe im Land.

Doch die Repressionen hatten nicht nur Schreckliches zur Folge, sondern die Leute schwiegen und richteten sich – eingesperrt hinter der Mauer – im System möglichst gemütlich ein. Bei Strafe ihres Untergangs glaubte eine Mehrheit auch eher an Gemütlichkeit als an Widerstand. Mitlaufen und Gehorsam lohnten sich. Not schweißt zusammen. Wer nach der 89er Revolution nicht mehr zu recht kam – und der Umbruch war gewaltig –, fühlte sich in seiner alten Haltung bestätigt. Mit dieser Geschichte „auf dem Buckel“ und diesen Menschen konstituierten sich nach freien Wahlen 1989 (Wahlbeteiligung über 90 Prozent) die sogenannten neuen Länder im vereinigten Deutschland – mit Sachsen am äußersten östlichen Rand. Bis dahin schon eine verrückte Geschichte.

Anfang des Jahres erschien nun im Ch. Links Verlag der Sammelband Unter Sachsen mit der Unterzeile Zwischen Wut und Willkommen. In diesem Buch schreibt kaum jemand über Geschichte, Leben und Herkunft seiner Bewohner. Die 40 Autorinnen und Autoren – die meisten Journalisten – bemühen sich, das Phänomen Sachsen aktuell kritisch zu erklären. Der Band enthält einige gute Beiträge (beispielsweise Stefan Locke oder Jaroslav Rudis). Insgesamt allerdings verharrt das Buch in politischen Klischees. Die jüngere Geschichte und mit ihr die Menschen spielen fast keine Rolle. Was bedeuten Jahrzehnte Arbeitslosigkeit und gravierende Landflucht? Was heißt es, kaum große Unternehmen und Unternehmerpersönlichkeiten zu haben? Was hat es für Folgen, wenn nach 1989 vor allem junge qualifizierte Frauen Sachsen verließen? Warum ist der Gemeinsinn im Osten am schwächsten? Und nicht zu letzt die Frage, auf welchen Positionen sitzen die Täter, die uns in der DDR drangsalierten? Unter Sachsen bringt zu den Lebensumständen kaum Erhellendes.

Da plötzlich schreckte im Frühsommer das Verbot einer Lesung des Buches beim Literaturfest Meißen auf: „Dieser Dreck hier nicht“. Nach öffentlichem Druck folgte wenig später die aberwitzige Entscheidung, nun zwar eine Lesung im Rathaus zu gestatten, nicht jedoch eine Diskussion (mdr). Dem Meißner Oberbürgermeister gebührt dafür Dank. Denn ohne diese unsinnige Entscheidung wäre das Buch in der Versenkung verschwunden. Meißen erwarb sich besondere Aufmerksamkeit: Süddeutsche Zeitung, FAZ, Frankfurter Rundschau

Die bizarre Entscheidung und die Aufregung darum –  nicht der Sammelband  – offenbarten, warum die Sachsen so sind, wie sie sind. Allen mangelt es an Erfahrung, Konflikte als normal zu begreifen. Viele wollen Ruhe im Land. Die zwei Diktaturen von 1933 bis 1989 leisteten ganze Arbeit. Um Demokratie zu lernen und in einer offenen Gesellschaft zu bestehen, sind 25 Jahre eben nicht viel Zeit.

Zur Erinnerung: Auch die Bundesrepublik sah 25 Jahre nach der Befreiung von 1945 noch völlig anders aus. Viele große und kleine Nazis lebten 1970 ungeschoren und in wohlsituierten Positionen. Ausländer waren keineswegs beliebt und willkommen. Aus all diesen Gründen ist es selbstgerecht und überheblich, die Ostdeutschen und insbesondere die Sachsen als tendenziell bekloppt (Dumpf ist Trumpf, TAZ) und generell mindestens rechts, wenn nicht rechtsradikal einzuordnen. Konflikte zu lösen und so das eigene Leben zu verbessern, sich einzumischen, selbst nachzudenken und öffentlich zu diskutieren, das lernten die Westdeutschen ebenfalls verdammt mühselig und keineswegs überall mit Erfolg.

Äußere Wunden lassen sich schnell heilen. Innere Verletzungen nicht. Das galt für Westdeutschland nach 1945 und gilt für Ostdeutschland nach 1989. Das rechtfertigt zwar nichts, erklärt aber vieles. Was in jedem Fall bleibt ist eine verrückte Geschichte.

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