Während die eine Profession schnell und aufsehenerregend berichtet, prüft die andere Zunft Quellen gründlich und hat Zeit. Deshalb prägen die Medien, bevor wir zu Geschichtsbüchern greifen, unser Geschichtsbild. Was aber, wenn die Medien weder Informationen noch Bilder haben? Historiker werden diese Lücken – vielleicht – entdecken. In unserem Gedächtnis bleiben sie zunächst unerkannt. Der 9. Oktober in Leipzig ist inzwischen unbestritten der Tag der Entscheidung deshalb, weil zu schießen angekündigt wurde und die Machthaber vor den 70 000 Demonstranten kapitulierten. Der Ruf „Wir sind das Volk“ ist legendär. Dennoch fragen viele, warum Leipzig so herausgehoben dargestellt wird? Die Leipziger demonstrierten bereits seit sechs Wochen Montag für Montag. Am 2. Oktober, eine Woche davor, blockierten 20 000 Demonstranten den gesamten Leipziger Stadtring. Keine Bilder, viel zu gefährlich. Folglich blieb die Vorgeschichte des 9. Oktober im Verborgenen. Die eher bunt-fröhliche Demonstration vom 4. November in Ostberlin, halb staatlich organisiert, mit 500 000 wird gefeiert. Das DDR-Fernsehen berichtete auch in den Westen ausführlich (wenngleich nicht umfassend, Biermann bspw. durfte nicht auftreten). Drei Tage vor dem Fall der Mauer – am 6. November demonstrierten in Leipzig 500 000 bis 600 000 Menschen mit Plakaten wie „Honecker hinter Gitter“. Aus allen Teilen des Landes kamen die friedlichen Protestierer in Leipzig zusammen: Die größte Demonstration aller Zeiten in der DDR, mittlerweile die 10. Montagsdemonstration und an diesem Tag mit dem alles beherrschenden, markerschütternde Ruf: „Die Mauer muss weg“. „Die Mauer muss weg“. „Die Mauer muss weg“ …