Mein Eindruck war, auf der anderen Seite der Welt zu sein: im Wiedervereinigungsministerium Südkoreas. Vor uns sitzen junge koreanische Frauen und Männer, allesamt Fachleute des Ministeriums. Sie wollen etwas mehr davon erfahren, wie es im geteilten Deutschland zuging und wie sich unser Land vereinigte. Alles wirkt wie eine Zeitreise. Wir pflegen bei uns, obwohl schon fast dreißig Jahre her, ja die Auseinandersetzung darüber, was so alles 1989/90 schief ging, fast bis zum Exzess. Wovon soll ich da berichten? Spontan fällt mir ein: Liebe Koreaner, bei der Vereinigung kann vieles misslingen. Unser deutscher Begleiter ahnt meine Gedanken und meint, die Koreaner hätten selbst größte Bedenken und suchen deshalb den Gedankenaustausch mit den Deutschen.
Wir besuchen die Demarkationslinie. Wie im geteilten Deutschland damals ein Westdeutscher von hohem Podest aus schaue ich nach Norden in das Land des Flüsterns*. Die Grenze mit Todesstreifen durchzieht die grüne sanfthügelige Landschaft. 1950 hatte das von der Sowjetunion unterstützte Nordkorea blitzkriegartig Südkorea mit Krieg überzogen und versucht, das gesamte Land zu erobern. Die Gegenoffensive der Amerikaner unter einem „rasch erwirkten UNO-Mandat“ ** begann im Herbst und endete im Norden. Dann griffen die Chinesen ein. „Wenn die Kolonialzeit [der Japaner] ein Unglück war, so war dieser Krieg eine unbeschreibliche Katastrophe“**. Dieser kostete Millionen Menschen das Leben und verwüstete alle Landesteile und die Städte. Der Kriegszustand wurde 1953 mit einem Waffenstillstandsabkommen eingefroren. Noch in den 80er Jahren bohrte das Regime von Nordkorea aus vier Stollen durch Granit in Richtung Seoul, um die Stadt besser angreifen zu können. In den Jahren 1990/93, als sich Deutschland vereinigte und die Rote Armee aus Deutschland abzog, herrschte in Nordkorea Hunger mit Millionen von Toten. Heute besitzt Nordkorea Atomwaffen. Die NVA hätte zwar im Ernstfall darüber verfügen können, aber Honecker besaß diese Waffen nicht. Welches Glück.
Südkorea entwickelte sich seit den 90er Jahren zu einem hochmodernen, hochleistungsfähigen kapitalistischen Land. Seoul ist eine gigantische Metropole. In Korea träumen viele Menschen, da bin ich mir sicher, von einer Wiedervereinigung. Wie im Norden gedacht und gefühlt wird, weiß kaum jemand. Im Süden bereitet sich die Regierung mit einem Ministerium darauf vor. Unabhängig davon glauben offensichtlich viele daran. Ohnehin scheint in diesem hochmodernen Land der Glaube weitverbreitet. Die buddhistischen Tempel, die katholischen Kirchen sind stets – nach unseren Maßstäben – sehr gut besucht. Auch in Südkorea herrschte bis vor wenigen Jahren Diktatur. Erst Ende der 80er Jahre entwickelte sich das Land langsam in Richtung Demokratie. 2017 brachte das Volk mit Kerzendemonstrationen die korrupte Präsidentin – Tochter eines ehemaligen Diktators – in den Gerichtssaal. Jetzt sitzt sie im Gefängnis. Wie werden die Koreaner eines Tages mit den Diktatoren des Nordens umgehen?
*Im Land des Flüsterns. Geschichten aus dem Alltag in Nordkorea. Barbara Demick. DROEMER 2016. Ein unglaublich authentisches und eindrücklich furchtbares Buch.
**Kleine Geschichte Koreas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Marion Eggert. Jörg Plassen. C.H.Beck 2018.