Die Krautreporter schätze ich eigentlich. Und alles, was Christian Gesellmann eindrucksvoll schildert, gibt es in Sachsen. Rechtes und rechtsradikales Denken sind weit verbreitet. Da ist nichts zu beschönigen. Doch der Beitrag Warum ich aus Sachsen weggezogen bin klärt nicht auf, lässt Wichtiges im Dunkel. Wer allein nach westlichen Maßstäben misst, scheitert im Osten.
Die Bundesrepublik sah 1970 - also 25 Jahre nach der Befreiung - auch völlig anders aus als heute. Damals saßen in Westdeutschland Nazis überall fest im Sattel. Nationalsozialistisches Denken gehörte zum Allgemeingut. Doch wir befinden uns heute im Osten auch erst 25 Jahre nach der Befreiung. Meine Landsleute sind die „Übriggebliebenen“. Millionen flohen vor 1989 und danach. Ja, es ist schrecklich. Wer blieb denn hier? Bis auf die Knochen Verunsicherte, die mit Freiheit verbinden, dass sie noch nie so unsicher lebten wie seit 25 Jahren. Hier leben die Täter, die uns mehr als 25 Jahre einsperrten. Jetzt melden sie sich alle zusammen zu Wort: Die einen rufen nach Gerechtigkeit, die anderen nach Putin, gemeinsam skandieren sie (auch weil sie sich nicht verstanden fühlen) „Lügenpresse“.
Der DDR-Obrigkeitsstaat bot eine verfluchte Geborgenheit hinter der Mauer. (Das Bauwerk wurde tatsächlich als antifaschistisch bezeichnet.) Einige, die den Staat DDR provozieren wollten, lernten schon deshalb eifrig nationalsozialistische Parolen. Über den alltäglichen Faschismus hingegen sprach in der DDR offiziell und in den Familien niemand. Nach 1989 und bis heute kommen aus Westdeutschland „Führerpersönlichkeiten“, die auf ein williges Publikum treffen. Währenddessen sich die alte Nomenklatura erfreut die Hände reibt, da es der verhassten Demokratie, die sie 1989 entmachtete, heute schlecht geht.
Doch mit den Problemen kein Ende: Wir haben kaum mittelständische Unternehmen, es fehlen Unternehmerpersönlichkeiten. Die Steuereinnahmen des Staates liegen weit unter dem Durchschnitt des Westens, aber ebenso das Einkommen der normalen Leute. Infrastruktur und Hochkultur sind nach 25 Jahren grandios intakt, doch die wirtschaftliche Situation zeigt sich nach wie vor höchst fragil. Und wir haben gleichzeitig auch ein Problem mit linksradikalen Jugendlichen. Wer von seinen Eltern und Lehrern im Stil der DDR erzogen wurde, dem liegen die Verhaltensnormen „vom antifaschistischen Kampf“ nahe. Gnadenlos.
Noch einige Zeit wird es dauern, bis sich im Osten eine demokratische Zivilgesellschaft entwickelt hat. Das betrifft den Osten Deutschlands, aber auch Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien etc. gleichermaßen. Dennoch sieht es nicht überall so dunkel aus, wie vom Autor beschrieben. Die wüste Verwahrlosung durch den Kommunismus ist vorbei.
Eine neue Mauer des Schreckens aufbauen? Mein Vorschlag wäre, nach Sachsen (und in die anderen Länder) reisen, mit eigenen Augen sehen und mit offenen Ohren verstehen. Auch Regeln und Ideen sind dringend nötig, nur nicht der ideologische „Holzhammer“. Sachsen ist ein wunderbar vielfältiges Land, höchst unterschiedlich (Leipzig ist anders als Dresden). Im Alltag der postkommunistischen Gesellschaft liegt noch viel harte Arbeit im Dunkel verborgen (und offen zutage). Journalisten sind, denke ich, dort am richtigen Platz, wo „es stinkt“. Deshalb überzeugen mich weder Flucht, noch Beitrag. Er ist gescheitert.