Beherrschung und Vernunft
Uns Menschen wird von früh bis spät eingeredet – oder wir reden uns den Anspruch selbst ein – wir könnten alles vollkommen beherrschen, nicht nur Gott, sondern auch die Obrigkeit. Wir müssten zur Herrschaft uns nur ermächtigen. Die Mittel und Wege dafür lägen in der digitalen Welt auf der Hand. Alle könnten sich mit allen verbünden. Kollektive Empörung jagte schon manche Obrigkeiten davon. Spätestens seit Nietzsche sei Gott tot. Lediglich von Naturbeherrschung wird zunehmend seltener gesprochen. Die Erdüberhitzung bringt zu Tage, in welchen Abgrund Allmachtansprüche führen können, wenn Millionen Jahre von Erdgeschichte in weniger als hundert Jahren verbrannt werden. Selbstbeherrschung hingegen erscheint dennoch immer noch eine Tugend von vorgestern. Dabei ist Demokratie nichts anderes als Herrschaft über uns selbst – also Selbstbeherrschung. Die fällt – so und so – schwer. Die demokratische Machtausübung wird zwar regelmäßig durch Wahlen auf den Prüfstand gestellt, was an die segensreiche Arbeit von Sisyphus erinnert, doch sie sollte – so meine Sicht – häufiger durch Formen direkter Demokratie herausgefordert und erneuert werden. Niederlagen und Gewinn bei Volksbefragungen und Volksbegehren sind gute Lernorte für Demokratie und – Vernunft.