Am nächsten Tag – Czernowitz ist aufgewacht – besuche ich das ehemalige jüdische Theater, sehe auf dem Wege dorthin zwei imposante Synagogen, eine ist wohl leer, die andere zu einem Kino umfunktioniert. Ein großes Wohnviertel schließt sich mit gut erhaltenen Gebäuden im Jugendstil und Historismus an. Zeugen einer versunkenen Zeit. Die Schillerstraße, die Goethestraße zeigen Wertschätzung. Für den Dichter Paul Celan, hier geboren, errichtete die Stadt 1993 ein Denkmal. Czernowitz war traditionell Hauptstadt der Bukowina – eines Herzogtums am östlichen Rand der Donaumonarchie.
Der Erste Weltkrieg setzte der Stadt mit mehrfachen russischen Besetzungen mächtig zu. Der Zweite Weltkrieg brachte mit dem deutschen Nationalsozialismus die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung und damit auch die Vernichtung der ursprünglich multi-ethnischen Kultur. Dabei hatte die deutsche Sprache hier eine besondere und integrative Rolle gespielt. Ab 1918 gehörte Czernowitz als Cernăuţi zum Königreich Rumänien, das, zunächst mit dem Nationalsozialismus verbündet, 1944 die Seiten wechselte.
1940 wurden diese Gebiete, wie mit den Nazis vereinbart, sowjetisch besetzt und einvernehmlich die deutsche Bevölkerung ausgesiedelt. 1944 folgte mit der Befreiung von den Deutschen erneut die sowjetische Besatzung für fast 50 Jahre. Endgültig zerbrach die einstmals stolze, reiche und kulturvolle Stadt. Die jüdische Bevölkerung war von den Rumänen – nach deutschem Vorbild – zunächst ins Getto, später nach Transnistrien verschleppt worden und kam dort fast vollständig um. Nach 1944 brachte stalinistischer Terror mit Gefängnissen und Mord, Verstaatlichung und Vertreibung Opfer zu Zehntausenden.
Um 1900 sprach die Hälfte der Bevölkerung Deutsch als Muttersprache, 15 Prozent Rumänisch, 20 Prozent Ukrainisch und mehr als 10 Prozent Polnisch. Rund 30 Prozent der Bevölkerung war jüdisch, meistens gaben die Juden Deutsch als Muttersprache an. Heute liegt der Anteil der Ukrainer bei 80 Prozent, der der Russen bei 10 Prozent, der der Rumänien bei knapp 5 Prozent. Die Juden, die bis 1989 hier überlebten (rund 6 Prozent), wanderten aus (Zahlen nach Wikipedia). Stadt, Gebäude und Straßen blieben die Gleichen, heute prägen Menschen von überall her Czernowitz. Nur ganz wenige überlebten (Deutsche Welle: Geschichte von Frau Zuckermann). Welche Vergangenheit die Menschen auch hier in sich tragen, sie werden im Jahr 2016 ein Vierteljahrhundert staatliche Unabhängigkeit der Ukraine feiern. Die Stadt hat ein neues Selbstverständnis gewonnen. Das sehe ich – auf dem zweiten Blick (vgl. Czernowitz heute und der Umgang mit dem gemeinsamen kulturellen Erbe). „Die Unabhängigkeit der Ukraine 1991 läutete einen Neuanfang ein.“
Schade, ich hätte gern vor Ort mehr vom Neubeginn der Stadt erfahren, die eine solche Geschichte hat, einen solchen Mythos trägt und mich als Deutschen nach wie vor beschämt. Unsere sehr gut Deutsch sprechende Stadtführerin und promovierte Germanistin Svitlana muss wegen eines Unfalls ihres Vaters kurzfristig absagen. Sie entwickelt im Moment eine anspruchsvolle Internetseite zu Czernowitz.
Wir touren weiter in Richtung Rumänien – in der bangen Hoffnung, mit dem Mietwagen über die Grenze zu kommen.