Eine Skizze (R. B. 28.6.09)
Am Anfang stand eine illegale Zusammenkunft des Neuen Forums im Waldstraßenviertel bei Dirk-Michael Groetzsch, vermutlich am 4. Oktober 1989. Beschlossen wurde dort von etwa 40 bis 50 Vertretern und Sympathisanten des Neuen Forums eine wie es hieß „vorläufige Redaktion“ zu gründen, die Publikationen herausgeben sollte.
Auf meine Anregung hin zogen wir uns aus der turbulenten Diskussionsrunde in die Küche zurück, um uns zu besprechen, wie wir das unter den gegebenen Umständen realisieren könnten. Mir war sehr bewusst, dass diese Entscheidung eine auf Leben oder Zuchthaus war. Wenn es schief ging, wären wir die ersten gewesen, die auf Nimmerwiedersehen im Knast verschwunden wären. Das System kannte keine Gnade.
Gründer der Redaktion waren Jan Peter, Holger Ahrens, Peter Fräbel, ich und ein Bernhard Becker, der wenig später „abgewählt“ wurde (laut Protokoll NEUES FORUM vom 21.10.). Becker hatte am 15. 10. in der Moritzbastei im Namen des Neuen Forum aufgerufen, drei Wochen lang nicht zu demonstrieren (Infoblatt Nr.2), und sich dadurch als IM oder als zumindest völlig untauglich entlarvt.
Nach dem 4. Oktober traf die Redaktion sich regelmäßig und laut Protokoll vom 3.11. dienstags ab 17 Uhr in meiner Wohnung Pölitzstraße 12 in Gohlis zur Redaktionsarbeit. Laut Protokoll wurde außerdem beschlossen, dass „die Redaktion in eigener Verantwortung Interviews auf regionaler Ebene geben kann“.
Holger Ahrens erscheint nicht in den Akten (siehe „Stasi intern“). Das ist auf ein Fehler in unserem Protokoll vom 18.10. (N.F. Red.)zurückzuführen. Diese Papier hatte offensichtlich ein IM in die Hände bekommen und abgeschrieben. Das Protokoll hält u. a. fest „Wir bilden … eine vorl. Redaktion fuer Selbstverständigung / Oeffentlichkeitsarbeit. Mitglieder …. “ (siehe oben).
Dass dieses Treffen am 4. Oktober statt fand dafür spricht, dass ich mit Datum vom 9. Oktober einen Brief von Holger Jackisch erhielt, der auf das geplante Zeitungsprojekt Bezug nahm und Mitarbeit anbot (Erstaunlich, was Holger am 9. Oktober für wichtig hielt./ Brief vorhanden). Jackisch wurde Mitarbeiter der DAZ und schrieb ein Vorwort für das 1. Buch des Forum Verlages.
Am 18. Oktober, also nur 14 Tage später, erschien bereits das 1. Informationsblatt des NEUEN FORUM LEIPZIG.
Mit dem 1. Informationsblatt veröffentlichten wir in Leipzig die ersten Fotos einer Montagsdemonstration überhaupt – am gleichen Tag (nicht eher meines Wissens nach) veröffentlichte erstmals auch die LVZ ziemlich versteckt ein erstes Foto! Zufall oder wussten die Zeitungserdakteure davon, dass wir ein solches Foto planten? Da Stasi und LVZ eng zusammen arbeiteten (jeder Leserbrief ging postwendend an die Stasi) wäre eine Absprache, unbedingt auch an diesem Tag ein Foto zu drucken, nicht abwegig. Das Foto der Montagsdemonstration 16. 10. im 1. Informationsblatt stammte von Matthias Hoch.
Am 19.10. veröffentlichten wir außerdem einen Sonderdruck „Allgemeine Erklärung der Menschenrechter der UNO vom 10.12. 1948“ ebenfalls mit Fotos von der Montagsdemonstration vom 16.10. Damit war diese Erklärung der Menschenrechte erstmalig auch in Leipzig frei zugänglich. Mit dieser Publikation begannen wir neben den wochenaktuellen Informationsblättern auch andere Publikationen herauszugeben.
Laut Protokoll vom 18.10. (N.F. Leipzig, Redaktion), schlägt die Redaktion dem Neuen Forum Leipzig u. a. vor , die Informationsblätter zu einer Zeitung weiter zu entwickeln, eine Lizenz nach GBL T.II 1962 Nr. 24 anzumelden, eine Verlagsgründung vorzubereiten und Rolf Sprink als langjährigen Verlagslektor dafür in die Redaktion zu wählen.
Das 2. Informationsblatt NEUES FORUM LEIPZIG erschien am 23. Oktober – nunmehr bereits gestaltet, verantwortlicher Redakteur ist Jan Peter.
„Am 27. 10. stellen R. Bohse und R. Sprink im Auftrag der Redaktion beim Rat des Bezirkes Leipzig einen Antrag auf Erteilung einer Zeitungslizenz ‚NEUES FORUM LEIPZIG`“. Protokoll vom 26.10. 89. In meinen Akten ist der Antrag vorhanden mit Unterschriften Reinhard Bohse und Rolf Sprink. „Die Zeitung soll mit einer Auflage von 10 000 Exemplaren erscheinen“ schrieben wir in den Antrag hinein, der an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes gerichtet war und in den Stasi-Akten erhalten blieb. Als Unterzeichner werden alle anderen Mitglieder der Redaktion benannt. Die Stasi-Kurzauskunft vom 30.10., die in diesem Zusammenhang erstellt wurde, enthält Auskünfte über mich, die bis in das Jahr 1978 zurückreichen, außerdem den Hinweis, dass „die Durchführung der OPK zu B. vorgesehen“ ist.
Von Anfang an erschienen die Informationsblätter im wöchentlichen Rhythmus stets mittwochs im Format A6 und in tausender Auflagen. Allein das Papier, aber auch die Druckmöglichkeiten aufzutreiben bedurften großer Anstrengungen und ungewöhnlicher Ideen. Außerdem hatten wir kaum Erfahrung in der Redaktionsarbeit und wenig im Schreiben von Texten für die Öffentlichkeit.
Im Informationsblatt Nr. 4 vom 7. November erschien unter „In eigener Sache“ die Information: „Wir gründen einen Verlag ‚Neues Forum‘. Unser Verlag wird die Zeitung ‚Neues Forum Leipzig’, Literatur unabhängiger Autoren und politische Publizistik herausgeben …“
Ende Oktober /Anfang November luden wir in meine Wohnung zur 1. Pressekonferenz mit den Sieben Sprechern des Neuen Forums Leipzig ein. Mutiger geworden nach dem Fall der Mauer veranstalteten wir die Pressekonferenz am 10. November bereits außerhalb meiner Wohnung, in der Gartenkneipe Mühlwiese in Gohlis. (Presse-Einladungsliste vorhanden und Wegeskizze, die wir an meiner Wohnungstür anbrachten.)
Die erste internationale Pressekonferenz des N.F. fand ebenfalls (meines Wissens nach) am 10. November in Berlin statt.
Am 14. November (!) – also vier Tage danach – erschien in der LVZ über unsere Pressekonferenz in Leipzig einen entstellenden Beitrag unter der Schlagzeile „`Neues Forum` mit zwei Klassen von Mitgliedern?“. Die Zitate waren schlichtweg erfunden.
Im Informationsblatt Nr. 5 (14.November) stellten wir unter der Überschrift „LVZ-Fälschung“ den Sachverhalt klar. „ Besser hätte die Notwendigkeit einer unabhängigen Presse nicht nachgewiesen werden können“ schreibt die Redaktion und teilt mit, dass sie einen Mitschnitt der Pressekonferenz gern zur Verfügung stellt. „Wir erwarten eine Richtigstellung durch die LVZ.“ Diese erfolgte natürlich nicht. Noch war sich die die SED-Zeitung ihrer Position sicher …
Im gleichen Informationsblatt veröffentlichte wir eine Äußerung des Neuen Forums vom 30.Oktober zu einer Montagsdemonstration auf dem Karl-Marx-Platz: „Lasst Euch jetzt nicht kaufen durch Konsum und bessere Reisemöglichkeiten!“
Am 18. November sprach ich im Auftrag des Neuen Forum und der Redaktion auf dem damaligen Dimitrofplatz vor dem alten Reichsgericht und gab dem ZDF auf dem Markt (mein erstes) Live-Interview. Die 400,- DM Honorar dafür bildeten das „Stamm“-Kapital des Forum Verlages.
Am 28. 11. teilte das Informationsblatt Nr. 7 „In eigener Sache“ mit, dass dies die „erste Zeitung `NEUES FORUM LEIPZIG (ist), die mit staatlicher Druckgenehmigung erscheint. Wir erhöhen unsere Auflage und werden ein Abo-System einrichten…“
Mitte November begannen wir in einem Team (siehe Herausgeber) mit der Realisierung des 1. geplanten Buches: „Jetzt oder nie – Demokratie“. Mit diesem Buch wollten wir die Montagsdemonstrationen dokumentieren: „Gewidmet denen, die am 9. Oktober in Leipzig demonstrierten“. Allerdings gelang es uns nicht, eine Druckerei in Leipzig aufzutreiben, die sich traute, das Buch in einem angemessenen Format zu drucken. Lediglich Reclam war bereit, aber das Format war uns zu klein.
Da half uns ein Treff (einer von vielen damals) in meiner Wohnung mit einer Wirtschaftsdelegation aus Nordrheinwestfalen. An diesem Treffen nahmen der damalige Wirtschaftsminister von NRW teil, u. a. auch Detlef Rohwedder und der Journalist Lothar Loewe. Eingefädelt hatte diese Treffen Roland Schatz (InnoVatio Verlag), der nicht nur nach Dresden zu Berghofer vermittelt wollte, sondern auch zur „wirklichen“ Opposition nach Leipzig.
Über diese Kontakte und während einer abenteuerlichen mehrtägigen Reise nach Westdeutschland entschieden wir uns für das Angebot von Bertelsmann. Noch wurden wir (Dezember ´89) an der Grenze kontrolliert, das Manuskript inklusive Fotos kurzzeitig beschlagnahmt.
Nach Besuchen in verschiedenen Verlagen vereinbarten wir als Forum Verlag die Lizenz für den RGW, Bertelsmann bekam die Lizenz für Westeuropa und wir 10 000 Exemplare kostenlos nach Leipzig geliefert – als Kaufpreis. Gestaltet wurde das Buch gemeinsam bei Bertelsmann in München. Das übernahm Grit Hartmann, die unsere Interessen dort engagiert vertrat.
Die Arbeit in der Redaktion lief unterdessen intensiv weiter. Wir hatten entschieden, den neuen Verlag „Forum Verlag Leipzig“ zu nennen, um damit die Nähe, aber auch die Unabhängigkeit vom Neuen Forum auszudrücken.
Das Informationsblatt Nr. 9 vom 12. November (?) erschien bereits mit verdoppeltem Seitenumfang, also mit acht Seiten (gefaltet Format A5).
Das Informationsblatt Nr. 10 vom 19. Dezember war das letzte dieser Art. Im Februar erschien unter dem Dach des Forum Verlages Leipzig (wirtschaftlich aber getrennt vom Buchverlag) eine mehrseitige Wochenzeitung im Rheinischen Format (?) die „Andere Zeitung“, die DAZ. Jan Peter leitete die Zeitung als Chefredakteur, Holger Ahrens war Fotograf und Peter Fräbel Mitarbeiter (Organisation, Finanzen?)
Anfang März erschien das 1. Buch „Jetzt oder nie – Demokratie“. Wir verkauften auf dem Karl-Marx-Platz, dort wo bis 1968 die Universitätskirche gestanden hatte, mehrere tausend Exemplare dieses ersten Buches des Forum Verlages Leipzig Die Käuferschlange reichte über hunderte Meter zeitweise bis zum Marktplatz. Die Einnahmen trugen wir (jeweils zu 10 000 Mark) in den Safe des Gewandhauses. Weiter 1000 Exemplare des Buches verkauften wir in relativ kurzer Zeit in der neu gegründeten Connewitzer Verlagsbuchhandlung bei Peter Hinke.
Zum Sitz des Buchverlages wurde das Haus der Demokratie, Bernhard-Göring-Straße 152, die Redaktion der DAZ quartierte sich in der Gleisstraße (4?) ein. Zum Buchverlag gehörten ab sofort diejenigen, die sich von den Herausgebern des 1. Buches dafür entschieden, den Buch-Verlag zu führen und damit auch zukünftig Chancen und Risiken zu teilen, das waren Grit Hartmann, Rolf Sprink und ich. Später kamen andere hinzu.
Die DAZ musste im (?) April 1991 vor allem aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben. Der Kreuzer (Name bezieht sich auf Connewitz Kreuz) erschien als DAZ-Beilage viermal zwischen Januar und April 1991. Der Kreuzer lebt in veränderter Form als Stadtillustrierte bis heute weiter.
Der Forum Verlag Leipzig (Buch) war mit seinem Programm politische Publizistik und Regionalia zunächst sehr erfolgreich (u. a. „Stasi intern“, „ Stasi intim“, „Stalins DDR“ sowie „Leipzig zu Fuß“), im Jahr 1995 mit der Konzentration auf Belletristik wirtschaftlich am Ende, wurde in Teilen verkauft und existiert heute noch (politische Publizistik).
Jan Peter wurde erfolgreicher Filmemacher, Peter Fräbel gründete eine eigene PR-Agentur, Holger Ahrens wurde freier Fotograf, Grit Hartmann blieb freie Journalistin, Rolf Sprink wurde Leiter der Volkshochschule Leipzig und ich Pressesprecher der Stadt Leipzig. Holger Jackisch, nach 1994 mehrfach ausgezeichneter Hörspielredakteur beim MDR, ist leider schon verstorben. +++